Thomas Mann
Werke
Enttäuschung
Inhalt
Die Erzählung „Enttäuschung“ wurde 1896 geschrieben und erschien erstmals 1898 im Novellenband „Der kleine Herr Friedemann“. Die Handlung spielt auf dem Markusplatz in Venedig, wo der Ich-Erzähler einen sonderbaren Mann beobachtet. Dieser verbringt seine Tage damit, die Piazza auf und ab zu schreiten, in sich gekehrt, mit gesenktem Blick und einem verwirrten Lächeln auf den Lippen.
Als sich die beiden eines Abends begegnen, vertraut der Unbekannte dem Erzähler seine Gedanken an. Er berichtet von seinem Leben, das von einer ständigen Enttäuschung geprägt ist. Aufgewachsen in einem Pastorenhaus, habe er durch die großen Worte von „Gut und Böse“ hohe Erwartungen an das Leben entwickelt. Doch die Realität erwies sich als „mittelmäßig und matt“: Ein Hausbrand, Naturgewalten, unglückliche Liebe und der Anblick des Meeres – all das ließ ihn enttäuscht zurück. Sogar der Tod, den er als letzte Hoffnung ansieht, erscheint ihm bereits als die nächste große Enttäuschung.
Der Fremde beschreibt seine einstige Suche nach Erhabenheit und Unendlichkeit. Doch die Kunst, die Natur und die Erfahrungen des Lebens vermochten nie, seine Erwartungen zu erfüllen. Schließlich bleibt ihm nur noch der nächtliche Sternenhimmel als Trost, während er auf den Tod wartet.
Interpretation
In „Enttäuschung“ thematisiert Thomas Mann die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Der Unbekannte symbolisiert den modernen, desillusionierten Menschen, der sich in seiner Erwartung nach Größe und Sinn beständig enttäuscht sieht. Die hohen Versprechungen von Religion, Kunst und Liebe werden als unerreichbar und letztlich leer entlarvt.
Der Einfluss von Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer ist in der Figur des Fremden erkennbar. Wie Nietzsche ist er ein Pfarrerssohn, der mit den überhöhten Erwartungen seiner Erziehung hadert. Schopenhauers Pessimismus spiegelt sich in der Erkenntnis, dass das Leben weder Erfüllung noch Trost bietet. Selbst der Sternenhimmel, sein letzter Zufluchtsort, verweist auf eine Sehnsucht, die niemals erfüllt werden kann.
Die Erzählung ist ein früher Ausdruck von Manns Skepsis gegenüber großen Idealen und verweist auf zentrale Themen seines späteren Werks: die Unvollkommenheit des Lebens und die Vergeblichkeit menschlicher Sehnsüchte.
Sprachliche und stilistische Mittel
Thomas Mann nutzt in „Enttäuschung“ eine präzise, bildhafte Sprache, um die Atmosphäre der Piazza und die Gedankenwelt des Fremden darzustellen. Stilmittel wie:
- Symbolik: Der Markusplatz steht für die Schönheit der Welt, die dem Fremden unzugänglich bleibt. Der Sternenhimmel symbolisiert die Sehnsucht nach dem Unendlichen.
- Wiederholungen: Die ständige Frage „Was ist das nun eigentlich?“ verdeutlicht die Resignation des Protagonisten.
- Kontraste: Die festliche Schönheit Venedigs steht im Widerspruch zur inneren Leere des Fremden.
- Erzählperspektive: Der Ich-Erzähler gibt die Monologe des Fremden wieder und schafft so eine subjektive, intime Stimmung.
Die melancholische Grundstimmung und die philosophischen Reflexionen des Fremden prägen die Erzählung und machen sie zu einem wichtigen frühen Werk in Thomas Manns literarischem Schaffen.
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